Die Talstrasse des Lötschentals

Die Talstraße verbindet die Orte Goppenstein, Ferden, Kippel, Wiler, Ried und Blatten und führt weiter bis zum Parkplatz Fafleralp. Wenn uns das heute selbstverständlich vorkommt, so müssen wir nur einen Blick in alte Reiseführer werfen, um eine Vorstellung von einer anderen Welt zu bekommen.

Noch 1911 gab es überhaupt keine Straße ins Lötschental. Von Gampel führte nur ein schmaler Fahrweg von Steg durch die Lonzaschlucht bis Goppenstein. Dieser war 1849 von der engl. Minengesellschaft, die in Goppenstein silberhaltige Bleiminen ausbeutete, gebaut worden.

Schwertransport auf dem Fahrweg nach Goppenstein um 1900.
Schwertransport im Lötschental auf dem Fahrweg nach Goppenstein um 1900.


Der Baedeker schrieb 1897 in Kapitel 55:

Von Gampel nach Kandersteg. Lötschenpaß.

12 St., nur von rüstigen Wanderern bei gutem Wetter zu unternehmen; Führer notwendig (von Ferden oder Ried bis Kandersteg 18 fr.). Das Lötschenthal ist auch an sich besuchenswert, bis Goppenstein steiler und schlechter Fahrweg, dann Saumweg bis Ried und Gletscherstaffel.

Dann heißt es weiter:
Von Gampel (641m; Hot. Lötschenthal), 20 Min. n. von der gleichn. Station auf dem r. Rhone-Ufer gelegen, da wo die Lonza aus dem Lötschenthal hervorströmt, führt der Weg, zuerst steil ansteigend, durch eine enge, den Lauinen sehr ausgesetzte Schlucht, an den Kapellen von (1 St.) Mitthal (1045m) und (1/2 St.) Goppenstein (1230m) vorbei. 1/4 St. hinter Goppenstein über die Lonza; das Thal öffnet sich und wird bebauter. 1 St. Ferden (1389m); 1/4 St. Kippel (1376m; Unterkunft beim Pfarrer). Dann wenig steigend über Wiler nach (40 Min.) Ried (1509m; H. Nesthorn, einf.), in schöner Lage am Fuß des Bietschhorns (3953m).

Als Führer werden hier erwähnt:
Jos. Rubin; Jos., Gabr., Joh. und Theod. Kalbermatten.

1911 sieht es laut Baedeker-Reisführer noch genauso aus.

alte Tal-Strasse des Lötschentals  1927 ist im Baedecker Schweiz bereits eine schmale Straße von Gampel aus ins Lötschental erwähnt, die über Goppenstein nach Ferden führt und "endet bei dem 10 km entfernten Kirchdorf Kippel" (Baujahr ?).
Von dort aus geht es – immer noch – nur über einen Saumweg weiter.

Erst 1939 gibt es aber wohl eine "richtige" Straße von Gampel bis Goppenstein, die in diesem Jahr nach 12-jähriger Bauzeit eröffnet wird.

Da warnte schon am 14. Februar 1939 der Publizitätsdienst der BLS (Bern-Lötschberg-Simplonbahn) in einem Brief den ‚Verkehrsverein Lötschental' vor dem Ausbau der Talstrasse und der Zulassung des Autoverkehrs:

Argumente waren z. B. die Gefährdung von Menschen und Viehherden, "starke Belästigung der Kirchgänger durch Staubwolken und Kotspritzer, Störungen des Gottesdienstes durch den Lärm der Autos" usw.
"Mit einem Wort, der Autoverkehr würde für das ganze Lötschental ein grosses Unglück bedeuten. […] Der Fremdenverkehr, der für das Lötschental eine fühlbare Einnahmequelle bedeutet, würde auf ein Minimum zurückgehen. Das heutige, gut organisierte Transportgwerbe müsste zum grössten Teil brotlos werden. Es kämen talfremde Leute und nähmen einerseits diesen Familien den bescheidenen Verdienst weg und verursachten andererseits allen Gemeinden in mehrfacher Hinsicht Mehrlasten, ohne dafür nur einigermassen einen Gegenwert zu bieten."
Quelle: Re-konstruierte Vergangenheit" von Josef Siegen, Lit-Verlag

 
Gefragt werden muss natürlich, ob hinter dieser Warnung nicht auch ein gewisser Eigennutz vermutet werden muss. Denn Autoreisende nutzten damals nicht die BLS, auch nicht durch den Lötschberg (den Autoverlad gibt es erst seit 1940). Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, wie Recht der Warner damals hatte. Profitieren doch heute vom Lötschental in der Hauptsache auswärtige Investoren.

Seit 1953 führt die Talstraße bis Wiler, seit 1954 bis Blatten.

Seit 1957 ermöglicht der Bau diverser Galerien, dass die Straße zwischen Goppenstein und Blatten von den Postautos ganzjährig befahren werden kann.

Seit 1972 endet die Talstraße auf einem großen (kostenpflichtigen) Parkplatz bei der Fafleralp.

Inzwischen ist die Talstraße so gut ausgebaut und an vielen Kurven mit Spiegeln versehen, dass die Postbusse leider kaum noch ihre schönen Fanfaren benutzen (müssen), um entgegenkommenden Verkehr frühzeitig zu warnen.

Während die Talstraße früher mitten durch die Dörfer führte, führt sie uns heute meist an diesen vorbei. Auch werden Brücken gebaut, damit der Autoverkehr durch weniger Kurven schneller wird. Was für ein Unsinn!

Immer noch ist die Straße aber an vielen Stellen so schmal, dass sich entgegenkommende Fahrer friedlich einigen sollten, wer Vorrang bekommt. Hier sollte man sich an die Regel halten: 'LKW und Buss immer vor PKW', 'beladen vor unbeladen' und dann 'Bergfahrt vor Talfahrt'.

Die Straße zwischen Gampel und Goppenstein führt heute, um den Durchreiseverkehr vom Rhonetal zum Autoverlad (und in umgekehrter Richtung) zu verbessern, anfangs über breite Serpentinen und dann, zum Schutz vor Lawinen, durch einen langen Tunnel, der von Hohtenn bis Mittal, also fast bis Goppenstein reicht. So bemerkt man die Lonzaschlucht und damit die Wildheit dieses Talabschnittes heute leider nicht mehr.
('Leider', weil ich meine, dass man sie erleben muss, um dieses Tal – oder zumindest was es war – zu verstehen.)

Und, dass man jetzt mit mehr als 100 km/h ins und durch's Lötschental könnte, ist nicht wirklich ein Fortschritt, oder?

Trotz des Mittalstrassentunnels hat die alte Talstraße zwischen Gampel und Mittal aber immer noch eine große Bedeutung für das Lötschental: Im Oktober 2011 haben die duch Unwetter enormen Wassermassen der Lonza die Brücke der alten Straße über die Lonza im Klosterli durch Unterspülung der Fundamente zerstört. Wie unter <http://1815.ch/wallis/aktuell/> zu lesen war, meint Jgnaz Burgener, Kreischef beim kantonalen Strassen- und Flussbauamt dazu: "Die Brücke muss wieder instandgestellt werden. Wir sind derzeit daran, die beste Lösung für das neue Bauwerk zu finden." und "Sollte der Mittalstrassentunnel nämlich eine Zeitlang ausfallen*, hätten wir überhaupt keine Verbindung ins Lötschental oder zum Autoverlad in Goppenstein.".
*Schweren Unfälle in Tunneln, wie z. B. im Gotthard-Tunnel am 24. Oktober 2001, haben gezeigt, wie lange es dauern kann, bis ein Tunnel nach einem solchen Unglück wieder seinen Dienst normal versehen kann.


08.09.2003 - Letzte Aktualisierung dieser Seite: 30.07.2015 - © edgar droste-orlowski

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